1. Ultra-Trail du Tour du Mont Blanc 2003
34:22:52h, 153,5km und 7.491hm
30./ 31.8.2003 Chamonix, F
Temperaturen um 10°C, Dauerregen, Nebel, zwischendurch sogar Schnee – alles in Allem nicht gerade Bedingungen, an die man als Mitteleuropäer in den letzten Wochen und Monaten gewohnt worden wäre. Nichtsdestotrotz erklärte Michel Poletti beim Briefing am Abend des 29. August: „Das Rennen findet statt. Das Rennen findet definitiv statt.“
Damit gab es wohl keine Ausrede mehr: Am Samstag, den 30. August hieß es um 4:00h morgens für ca. 720 gemeldete Läufer “Bon courage!“.
Doch von Anfang an:
Nachdem ich in den Monaten Juni und Juli lauftechnisch etwas zurückgesteckt hatte – die Arbeit war mir etwas zu viel geworden und nach zwei 24h-Läufen und einem „normalen“ Marathon im Mai hatte ich ehrlich gesagt erst mal genug – wollte ich es im August noch einmal wissen: Für meinen Urlaub Anfang August suchte ich mir zwei anspruchsvolle Viertagestouren im Kaiser- bzw. Karwendelgebirge aus und brachte sie erfolgreicher hinter mich als ich zunächst befürchtet hatte.
Die Tatsache, dass ich in diesen acht Tagen bei mehr als sommerlichen Temperaturen über 17.000 Höhenmeter im Aufstieg schaffte, machte mir Mut für einen Lauf, zu dem ich mich zwar schon vor längerer Zeit angemeldet hatte, an dessen möglicherweise erfolgreichen Abschluss ich aber noch nicht so richtig glauben wollte: Der „Ultra-trail International du Tour du Mont Blanc“, die non-stop Umrundung des Mont Blanc-Massivs mit 150km und 7.500 Höhenmetern.
Es ging mir hier so ähnlich wie beim „SwissAlpine Marathon“ in Davos und dem „Bergmarathon rund um den Traunsee“: Die Herausforderung war zu groß, um abzulehnen. Auf den ersten Blick hin war ich infiziert und die Vorstellung daran, dieses Abenteuer zu einem Stück meiner eigenen Vergangenheit machen zu können, ließ mich nicht mehr los. Die Tatsache, dass dieser Lauf noch dazu seine Premiere feierte verlieh dem Ganzen seinen besonderen Reiz.
Die Sache nahm also ihren „Lauf“: Das von der Rennleitung geforderte ärztliche Attest, das meine Eignung zu „Ausdauerleistungen in alpinem Gelände“ bestätigte wurde akzeptiert und ein weiterer Urlaub von vier Tagen genehmigt (Danke, Jakob!!). Mein Vater erklärte sich dankenswerterweise bereit, mich nach Chamonix und zurück zu fahren. Außerdem wartete er entlang der Strecke an den meisten Stellen, die mit dem Auto zu erreichen waren auf mich und schaffte es, mir durch seine ruhige und ausgeglichene Art jegliche Nervosität zu nehmen und dadurch meine Motivation und Leistungsbereitschaft enorm zu steigern.
Am Donnerstag Abend kamen wir in Chamonix an und waren erst einmal begeistert von der Kulisse, die sich uns bot: Es ist ja nun nicht so, dass wir die Berge nicht kennen würden, aber das Dach Europas ist halt doch etwas anderes als unser Alpenvorland! Wer die Steilheit und Filigranheit der Westalpen in Verbindung mit ihren Gletschern und tiefen Tälern kennt weiß sicherlich, wovon ich rede.
Ein bezahlbares Hotel war schnell gefunden und wir genossen den lauen Abend – der letzte, wie sich bald herausstellen sollte – im Goophys in Chamonix bei einem einfachen Essen. Noch in der Nacht zog ein Gewitter über Chamonix her, das mir zugegebenermaßen Gänsehaut über den Rücken jagte. Ich fragte mich, wie sich die Wege des GR5, des Fernwanderwegs rund um das Mont Blanc-Massiv, der einen Großteil der Rennstrecke bildete bei solchen Niederschlägen wohl laufen ließen. Meine Motivation jedenfalls steigerte diese Nacht nicht gerade.
Das jedoch sollte sich am nächsten Tag massiv ändern: Das Gewitter hatte sich zu einem beachtlichen Dauerregen gewandelt und damit all unsere Ideen, den Freitag sinnvoll zu nutzen buchstäblich ins Wasser fallen lassen: Ein Bummel durch Chamonix war bei diesem Sauwetter eher ein Trauerzug, es blieb beim Kauf einer Wanderkarte vom Mont Blanc-Massiv. Bei den bestehenden Sichtweiten war eine Fahrt auf die Brévent, den Gipfel, der auf der anderen Seite des Aveyron-Tals liegt und somit - normalerweise - einen gigantischen Blick auf Chamonix und Mont Blanc bietet nicht nur extrem teuer sondern auch ziemlich sinnlos, denn vom höchsten Punkt Europas sah man den ganzen Tag rein gar nichts. Auch meine geplante lockere Warmlaufrunde schob ich vor mir her, denn es regnete in Strömen und außerdem war es viel kälter, als ich erwartet hatte. Sogar für die Temperaturen im Tal hatte ich viel zu sommerliche Laufsachen dabei. Ich wollte gar nicht wissen, wie es auf 2.700m aussah, bei Wind und vielleicht Schnee.
Doch um 11:30h hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte wissen, wie ich drauf war und das so schnell wie möglich. Ich hatte mir eine 600hm-Tour herausgesucht. 1,5 – 2h sollte die Sache insgesamt dauern. Gleich hinter unserem Hotel ging es in steilen Serpentinen Richtung Aiguille du Midi hinauf. Der Regen half mir dabei, schnell meinen Rhythmus zu finden und fast meditativ lief ich mit fast 1.000hm/h auf traumhaften Sandwegen bergan. Die Alpages du Blaitière war schnell erreicht und ich war gerade erst warm. Am nächsten Abzweiger zeigte mein Höhenmesser 840m „dénivelé positif“ an und die 1.000 wollte ich nun unbedingt voll machen. Kurzum, nach 1,5h hatte ich 1.300hm hinter mir und stand an der Mittelstation zur Aiguille du Midi. Ich konnte es kaum mehr erwarten, loslaufen zu dürfen, loszulaufen in eine für mich neue Dimension von Strecke, Höhenunterschied und Dauer. Wenn ich es jemals schaffen würde, dann morgen, darüber war ich mir in diesem Moment fast sicher. Mein Kopf war frei. Ich war frei. Und – das Wichtigste – ich erwartete gar nichts.
Den Nachmittag, der Regen hatte wenigstens etwas nachgelassen, verbrachten wir in Chamonix. Die Startnummerausgabe verlief recht harmlos, um 18:00h war Briefing und eine Sunde später die Pasta Party. Jetzt zeigten sich sogar die Gipfel um den Mont Blanc noch einmal und es sah wirklich freundlich aus. Doch die Wettervorhersage räumte dem blauen Himmel keine lange Lebensdauer ein: Die nächsten beiden Tage sollte es hauptsächlich nass und kalt werden.
Der große Tag war gekommen. Nach ca. 2h Schlaf – eine noch nie zuvor erlebte Mischung aus Aufregung, Spannung und Vorfreude hielt mich die meiste Zeit wach – überprüfte ich gegen 1:30h noch mal meine Ausrüstung, aß noch eine halbe Honigmelone und machte mich auf den Weg zum Start. Die Abgabe des Rucksackes, der einem an den Etappenzielen Courmayeur und Champex zur Verfügung stand war wesentlich einfacher als sie sich beim Briefing tags zuvor angehört hatte; aber das war wohl mein Problem bzw. das meiner fast nicht vorhandenen Französischkenntnisse. An der Organisation des gesamten Rennens jedenfalls habe ich nicht das Geringste auszusetzen.
Der Place de Balmat im Zentrum von Chamonix füllte sich zusehends und gegen 3:45h dürften alle 720 angemeldeten Läufer da gewesen sein. Die meisten hatten die Wetterwarnungen sehr ernst genommen und waren mit langer Hose, Regenjacke und Mütze angetreten. Ich lief in kurzer Laufhose los und unter meinem halbärmeligen Trikot hatte ich lediglich ein Funktionshemd. Was die Schuhe anging verließ ich mich voll auf meine Erfahrungen in Kaiser und Karwendel: Noch nie war ich mit so wenigen Blasen davon gekommen wie mit Salomons „Tech Amphibian“. Das extrem geringe Gewicht und eine geradezu fantastische Traktion runden diesen Schuh ab. Extra für dieses Rennen hatte ich mir ein zweites Paar gekauft und auch schon eingelaufen. 32h Stunden in den gleichen Schuhen hielt ich doch für ein bisschen lang. Aber wie bei der Kleiderwahl befürchtete ich jetzt, auch bei der Wahl der Schuhe einen Fehler gemacht zu haben, denn dieses Modell zeichnet sich nicht gerade durch Wetterfestigkeit aus: Der größte Teil des Schuhs besteht aus Netzmaterial und je nachdem, ob man damit bergauf oder bergab läuft rinnt das Wasser vorne rein und hinten raus oder umgekehrt. Wie sich jedoch herausstellen sollte, sollte aus diesem vermeintlichen Nachteil ein Vorteil werden. Doch dazu später mehr.
Cinq, quatre, trois, deux, un....
Um 4:00h war es dann also tatsächlich soweit. Langsam kam das Feld in Bewegung und schob sich durch die Gassen von Chamonix. Entlang der Aveyron ging es nach Les Pelerins, vorbei an der Passstraße, die zum Mont Blanc-Tunnel führt, weiter nach Les Monfquarts und schließlich nach Les Houches. Ich fühlte mich stark an Davos erinnert; auch hier beginnt die Sache im Langwassertal zunächst recht harmlos.
Wer wie weit laufen wollte, wusste man nicht so genau. Anders als bei den meisten Rennen war ein spontanes Wechseln zwischen den drei Distanzen (67km/ 3.777hm, 110km/ 5.642hm und 150km/ 7.491hm) möglich. Auch wer sich eigentlich „nur“ für die kurze Distanz bis Courmayeur angemeldet hatte, konnte gerne weiter bis Champex oder gar Chamonix laufen. Gewertet wurde auf jeden Fall das weiteste erreichte Ziel.
In Les Houches war die erste Verpflegungsstation und der Start zur ersten „Bergwertung“. Der Anstieg zum Col des Voza war jedoch nur ein leichter Vorgeschmack von dem, was auf uns zukommen sollte: 650hm verteilt auf 5km und das Ganze teilweise noch dazu auf Teerstraße, deswegen war wohl keiner hier. Aber dennoch strebte jeder diesem Berg respektvoll entgegen, wohlwissend, dass ein solcher Hügel einem nach 130km und 6.000hm das Kreuz brechen konnte. Mittlerweile war es 6:00h und ich war ganz froh, dass ich meine Kalkulation fast minutengenau eingehalten hatte.
Ich hatte mir die Strecke im Kopf bereits vorgenommen und jeden Abschnitt halbwegs realistisch einzuschätzen versucht. Im Endeffekt bedeutet das: 32h, davon insgesamt 2,5h Pause an den beiden Zwischenzielen (30min in Courmayeur und 2h in Champex). Durchschnittsgeschwindigkeit: 5,1km/h oder knapp 12min/km, eine durchschnittliche Steiggeschwindigkeit von 700hm/h, bergab ca. 1200hm/h. Wie diese Geschwindigkeit nach 120km und 5.000hm sowie Schlafmangel noch einzuhalten sein sollte, wusste ich zwar nicht, aber ich konnte sowieso kaum etwas vorhersagen, hatte ich doch vor, meine bisher längste Laufzeit um ca. 8h, meine bisher längste Strecke um 20km und meinen bisher größten Höhenunterschied um 3.100hm zu steigern. Also kalkulierte ich lieber optimistisch, denn das vorgegebene Zeitlimit von 38h, das einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 4km/h entsprach war eng genug. Zudem wurde es im Laufe des Rennens um 2h verkürzt, während sich die Strecke durch eine witterungsbedingte Änderung nochmals um 3,5km verlängerte.
Den Streckenverlauf mit allen Verpflegungs- und Kontrollstellen, den Höhenunterschieden sowie Zeitangaben, die sich auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 5km/h bezogen, hatte ich in einer Tabelle zusammengefasst. Diese hatte ich - wasserdicht eingeschweißt - griffbereit in einer kleinen Tasche am Rucksack, in der auch mein Fotoapparat steckte. So wusste ich immer, wie sich der Weiterweg gestaltete, wusste, wie weit die nächste Verpflegungsstation entfernt war und konnte außerdem meine Geschwindigkeit einschätzen, ohne allzu viel zu rechnen zu müssen.
Der Abstieg nach Les Contamines war recht harmlos, allerdings spürten wir schon wieder einzelne Tropfen und über die Abkühlung freute sich niemand wirklich. Der größte durchgehende Anstieg stand uns bevor: Von Les Contamines bis zum Col de la Croix du Bonhomme ging es nun 1270hm ständig bergan. Der Col des Fours, mit 2665m der absolute „Höhepunkt“ des Laufes war gestrichen worden, da hier die Wege schon so aufgeweicht waren, dass die Veranstalter Stürze und Verletzungen der Läufer befürchteten. Stattdessen ging es vom Col de la Croix du Bonhomme zur gleichnamigen Hütte und von dort auf der normalen GR5-Route nach Les Chapieux. Diese Änderung machte 3,5km mehr Strecke aus, allerdings nur 50 zusätzliche Höhenmeter und war damit durchaus zu verkraften.
Der folgende Anstieg zum Ville des Glaciers gehörte mit zu den Abschnitten, die mir die meiste Motivation abverlangten: Endlose Teerstraßen mit ganz leichter Steigung gehören nicht zu meinen favorisierten Laufstrecken, aber es half ja nichts. Jetzt schon jammern? Wir hatten gerade mal die Marathondistanz hinter uns! Das Refuge des Mottets, 1,3km nach Ville des Glaciers, erreichte ich gegen 12h. Damit hatte ich (rechnet man die Streckenverlängerung mit ein) meine persönliche Planung genau eingehalten.
Das Wetter hatte sich mittlerweile massiv verschlechtert: Auf den Pässen pfiff ein eiskalter Wind und der Regen tat sein übriges, um die Läufer zeitweise in zitternde Wesen zu verwandeln. Wie es miR nachts gehen sollte, wenn zu diesen Konditionen noch die Müdigkeit und eine gewisse Demotivation kam, wollte ich eigentlich so genau gar nicht wissen. Ich konzentrierte mich vielmehr auf das erste Etappenziel: Courmayeur. Dazwischen lagen noch 22km und 1100hm, die ich in den nächsten 4,5h hinter mich bringen wollte.
Das lief auch erstaunlich gut: Trotz erneuter „Zitterpartie“ am Col de la Seigne, dem 2.516m hohen Übergang von Frankreich nach Italien, kam ich noch gut voran. Mittlerweile half auch wieder das Wetter ein wenig, denn immer öfter kam die Sonne durch und meine Regenjacke, die mir nasskalt auf der Haut klebte, trocknete schön langsam.
Am Arête Mont Favre hatte ich sogar die Hoffnung, doch noch endlich einmal den höchsten Gipfel Europas zu sehen, aber die Wolken um den Mont Blanc hielten sich eisern und so genoss ich die Aussicht auf den Glacier du Miage und bald schon auf das Aosta-Tal und Courmayeur.
Um 16:10h war es soweit: Der erste Abschnitt war geschafft und mit 70km und 3.800hm lag ein ganz anständiger Lauf hinter uns. Michel Poletti hatte beim Briefing bereits angekündigt, dass nur knapp die Hälfte der 720 angemeldeten Läufer vorhatte, Courmayeur Richtung Champex zu verlassen. So überraschte es nicht, dass sich viele in der dortigen Sportanlage bequeme Klamotten anzogen und zur Nudelparty strebten. Voller Schreck musste ich jedoch mittlerweile feststellen, dass zwar 320 Läufer das Rennen in Courmayeur beendeten, allerdings auch 180(!) Läufer Courmayeur nicht innerhalb des Zeitlimits erreichten. Damit setzten nicht wie angekündigt 350, sondern lediglich 220 Läufer das Rennen ab hier fort.
Grund dafür war sicherlich zum Einen das Wetter, zum Anderen aber auch die Straffung des Zeitlimits um 2h in Zusammenhang mit der Streckenverlängerung um 3,5km, die ja bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 4km/h auch schon wieder fast eine Stunde ausmachte. Wer also keine Bekanntschaft mit dem Schlussläufer machen wollte, musste 3h schneller sein als zunächst vorgegeben. Für diejenigen, die knapp kalkuliert hatten, um Kräfte zu sparen bedeutete das leider das Ende des Rennens. Doch wer die diversen Verletzungen der Läufer in La Fouly und Champex gesehen hat versteht, warum sich die Organisatoren zu diesem Schritt entschlossen haben. Vorwürfe kann man ihnen wohl keine machen.
Um 16:30h verließ ich Courmayeur und hatte damit sogar wieder ein bisschen Zeit eingeholt. Die folgenden 13km lassen sich in einem Wort recht gut beschreiben: Laaaangweilig!! Wieder eine nicht enden wollende, sanft ansteigende Teerstraße. Gott sei dank traf ich Anke Drescher, mit der ich ein paar Worte wechseln konnte, bis auch sie mir ihre Klasse zeigte: Mit den Worten „Ich lauf jetzt wieder, ich bin heute eh’ so langsam...“ verabschiedete sie sich in Richtung Refuge Elena. Um 20:00h hatte auch ich diese Berghütte erreicht und war froh, dass es nun wieder zur Sache ging. Höhenunterschiede – egal, ob positiv oder negativ – geben mir einfach die meiste Motivation, das merkte ich schon in Davos und am Traunsee. Jetzt ging es noch mal auf über 2.500m. Die Strecke war nach wie vor hervorragend markiert, fast hatte man den Eindruck, die „Navigatoren“ mussten jetzt vor der Grenze zur Schweiz noch alle Bändchen los werden, so eng waren die Abstände zwischen den Markierungen.
Am Grand Col Ferret empfing mich eine gut gelaunte Truppe und ich packte all meine Französischbrocken aus. Die Ernte fiel auch nicht schlecht aus, ein „Iehsch liebö diehsch“ ließ mich fast bergab in die einsetzende Dämmerung stolpern. Leider sollte ich mit meiner Vorstellung von den Wegmarkieren, die ihr Material bis zur Grenze loswerden wollten recht behalten: Anscheinend war für den schweizer Teil der Strecke andere Helfer verantwortlich, die uns Läufern wohl wesentlich bessere Navigations- und Orientierungsfähigkeiten zutrauten. Von nun an kam immer öfter die Frage auf, ob man denn noch auf dem richtigen Weg sei, denn teilweise kamen einem die Abstände zwischen den Markierungen ewig vor. Da kam natürlich alles zusammen: Zum Einen waren wir verwöhnt von der bisherigen Markierung, zum anderen wurde es dunkel und nebelig, die Konzentration ließ nach und man war immer öfter alleine unterwegs, denn die Abstände zwischen den Läufern waren extrem groß, nachdem ja nur mehr 220 davon unterwegs waren!!
So war die Stimmung in La Fouly, wo ein letztes Mal an diesem Tag mein Vater auf mich wartete, auch nicht gerade berauschend. Es war kalt und nass, ich war müde und genervt, da auf den letzten Kilometern der Weg bergab extrem weich und rutschig war und man im Schein der Stirnlampe nicht mal wusste, wo man hinrutschte. Vielleicht war das aber auch ganz gut so, denn was man in dem fahlen Licht erkannte machte einem klar: Nicht ausrutschen!! Spätestens als ich die Ketten sah, mit denen ein Teil des Weges gesichert worden war, wurde mir wieder klar, dass ich mich im Hochgebirge befand.
Aber es gab einen Hoffnungsschimmer: Ich war in La Fouly eine halbe Stunde vor meinem Zeitplan; also hatte ich gute Chancen, den Lauf erfolgreich zu Ende zu bringen, und deshalb war ich schließlich da, nicht um mir den Kopf zu zerbrechen, was alles schief gehen könnte!! Immer wieder kam mir Adorno in den Kopf: „Die größte Gefahr im Leben besteht darin, dass man zu vorsichtig wird.“ Wann hatte ich je wieder die Chance, in diese einzigartige Situation zu kommen? Bisher war alles mehr als optimal verlaufen und ich hatte sogar noch meinen Spaß dabei gehabt; war es da nicht quasi meine Pflicht, mit voller Kraft weiter zu machen?
Ich hatte mich in La Fouly etwas gestärkt und viel getrunken. Schnell stellte ich fest, dass sich an der Markierung des Weges nicht viel zum Positiven geändert hatte: Nach der Überquerung eines größeren Baches war ich gleich mal in die falsche Richtung gelaufen. Der Weg endete Gott sei dank recht abrupt, sodass mir schnell klar wurde, dass ich falsch war. Als ich zurückkam, kam mir noch ein Läufer entgegen, der den gleichen Fehler gemacht hatte. Wir „orientierten“ gemeinsam weiter. Bald stießen wir auf einen weiteren Kameraden, der still vor sich hinfluchte und irgendetwas zu suchen schien. Ich verstand irgendetwas von „pluie“ und suchte gemeinsam mit den beiden nach einer Regenjacke oder Ähnlichem. Wie sich später herausstellte (der erste der beiden sprach etwas Englisch) suchten beide nach einer Markierung, denn bestimmt einen halben Kilometer gab es gar nichts mehr. Noch dazu an einem Wegabschnitt, der volle Konzentration erforderte: Gefühlsmäßig (viel sah ich ja nicht) handelte es sich um ein Bachbett, denn es lagen kopfgroße Steine auf dem „Weg“. Wenn man dann so übermüdet vor sich hinstolpert und die Sprunggelenke nach mittlerweile 19h schon nicht mehr jeden Fehler „abfedern“, dann wünscht man sich wenigstens, dass man nicht ständig den Wegesrand „abscannen“ muss, in der Hoffnung, bald wieder einen Leuchtstab oder ein Markierungsbändchen zu erspähen. Dankenswerterweise tauchte irgendwann eine Stirnlampe auf, die zu einem freundlichen Helfer gehörte, der einem den weiteren Weg beschrieb. Voller Hochachtung fragte ich mich, was einen Menschen wohl dazu motivieren könnte, sich nachts bei Regen in den Wald zu stellen und wildfremden Sportlern zu erklären, wo sie hinlaufen sollten. Er stellte sich wahrscheinlich eine ganz ähnliche Frage bei jedem Läufer, der vorbei kam...
Nach dieser körperlich wie geistig anstrengenden Strecke ging es auf eine sanft fallende Teerstraße durch Dörfer und der Körper holte sich, was er brauchte: Ich wunderte mich schon, warum es auf einmal so ruckartig vorwärst ging, bis ich erkannte, dass ich ständig in Sekundenschlaf fiel. Eine Abzweigung von der Hauptstraße, sie war Gott sei dank ausreichend markiert, hatte ich schnell erkannt. Kurz darauf fragte ich mich jedoch, was ich da gerade gesehen hatte, denn vor mir war nichts als die schwarze Nacht. Vorsichtshalber drehte ich mich um und siehe da: Schlafend war ich wohl daran vorbei gelaufen und ich musste ca. 100m zurück.
Noch schlimmer ging es da jedoch einer Gruppe von sieben Läufern: Kurz nach Issert (nach 108km) verließ der Kurs die Straße bergan Richtung Champex-Lac. Als ich mir sicher war, dass ich die richtige Abzweigung erkannt hatte, brüllte ich so laut ich konnte, denn ich konnte einen ganzen Haufen von Lichtkegeln erkennen, die die Straße schon ca. 300m weiter bergab gelaufen waren. Die „Nachricht“ hatte schnell alle erreicht und wir nahmen mehr oder weniger gemeinsam den 450hm-Anstieg Richtung Champex-Lac in Angriff.
Von den folgenden Kilometern weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr viel: Frierend, nass, müde und voller Hoffnung, dass Champex mit Wärme, Essen, Dusche und Schlafgelegenheit möglichst bald kommen möge, lief bzw. ging ich vor mich hin. Ich hatte meine Karte mit der Streckenbeschreibung und meine Uhr im Rucksack verstaut, denn Zeiten oder Ähnliches interessierten mich nicht. Um jemals in Chamonix anzukommen musste ich einen Fuß vor den anderen setzen. Abstrakte Zahlengebilde reduzierten nicht die Anzahl der Schritte, die dazu erforderlich waren. Ich wollte diese Tour machen und dass ich unterwegs meine Tiefs haben würde wusste ich vorher ganz genau. Es gab nichts zu jammern und zu schimpfen, es war allein meine Entscheidung gewesen. Doch gerade aus der bedingungslosen Akzeptanz von Dingen, die einem unangenehm sind, wächst oftmals Motivation, das hatte ich schon mehrfach festgestellt. Getreu dem Motto: „Du hast keine Chance. Nutze sie!“
Irgendwann dann tauchten Häuser aus dem Nebel auf und damit die verloren geglaubte Motivation. Ich holte meine Karte aus dem Rucksack. Das zweite Etappenziel war zwar nicht in Champex-Lac, wie ich es im Kopf gehabt hatte, sondern in Champex d’en Bas, 2km weiter und 100hm tiefer, aber das sollte jetzt auch noch drin sein. Ich war anscheinend recht schnell unterwegs, denn die Gruppe der „Irrläufer“ hatte mich nicht eingeholt und ich hatte zu einer weiteren Gruppe aufgeschlossen. Gemeinsam liefen wir entlang des Sees durch das Feriendorf. Wie tot wirkten die Gebäude, seit diesen Minuten verbinde ich mit dem Wort „Geisterstadt“ nicht nur das Bild einer Western-Kulisse, sondern ein echtes Gefühl. Irgendwie merkte ich, dass ich hier nicht her gehörte, dass ich hier nichts zu suchen hatte.
Bald erkannte ich die Pavillons, in denen wohl tagsüber die Veranstalter ihre Arbeitsplätze hatten - jetzt waren sie in den Eingangsbereich der Bunkeranlage umgezogen, denn das Wetter war nach wie vor sehr durchwachsen. Die Stimmung, die an diesem zweiten Etappenziel (nach 113km und 5.642hm) herrschte, kann ich mit Worten nicht annähernd beschreiben. Surreal, das trifft’s vielleicht. Von Siegesstimmung und Erleichterung jedenfalls keine Spur. Ich erinnerte mich an den Bericht zu meinem ersten SwissAlpine Marathon, als ich versuchte mein Empfinden im Ziel zu beschreiben: „Ich konnte nichts trinken und essen, sondern legte mich erst mal eine halbe Stunde auf den Kunstrasen, unfähig irgendeine Emotion zu empfinden.“ So oder so ähnlich ging es wohl den meisten hier. In die Schlafräume habe ich keinen Blick geworfen, aber da war wahrscheinlich nicht arg viel los. Im Speisesaal schliefen auch einige auf dem Tisch und als eine Läuferin über Kreislaufprobleme klagte, waren die Helfer sofort zur Stelle, legten sie in Schocklage auf den Tisch und versorgten sie. Das alles lief fast wortlos ab, einige sahen kurz hin und wandten sich dann wieder ab, Emotionen jedenfalls waren keine im Spiel.
Ich war um 3:00h angekommen und lag damit 1,5h über meiner Planung. Doch das war mir jetzt relativ egal, zunächst wollte ich wieder einen Menschen aus mir machen! Nachdem ich geduscht und mich umgezogen hatte, nahm ich zwei Teller Nudeln, trank Tee und unterhielt mich mit einem Läufer über das, was wir bisher erlebt hatten. Er klärte mich auf über die Straffung des Zeitlimits und die Verhältnisse auf dem höchsten noch anstehenden Punkt (Catogne, 2.040m). Das Zeitlimit zum Verlassen von Champex war von 8:30h auf 6:30h vorgezogen worden, wegen Schnee und den aufgeweichten Wegen wollten die Veranstalter wohl die Läufer von der Strecke holen. Ich änderte meine Strategie: Anstatt jetzt 2h Pause einzulegen und im Dunkeln „der Tragödie zweiter Teil“ aufzuführen, wollte ich die Luft, die uns die Rennleitung ließ ausnutzen und um 6:00h erst weiter laufen. Dann war es schon fast wieder hell und ich hoffentlich so erholt, dass ich den letzten Marathon mit 1.850hm durchziehen konnte. Ich hatte dafür dann immer noch 10h Zeit.
Die Zeit zwischen 4:00h und 6:00h verbrachte ich wie viele andere am Tisch schlafend, aber dass ich weiter machen würde, bezweifelte ich keinen Augenblick. Adorno war jederzeit präsent!! Um kurz vor sechs packte ich mein Zeug, trank noch etwas und füllte mein Camelbak auf. Dass es der Streckenchef von Champex nicht so arg toll fand, dass schon wieder einer los wollte merkte ich zwar deutlich, aber aufhalten konnte mich jetzt keiner. Zuversichtlich und mit etwas unrundem Schritt lief ich in die Dunkelheit hinaus.
Der nächste Anstieg stand bevor: Die 600hm zum Fermes de Bovine liefen ganz gut, ich war wieder im Rhythmus und das Bewusstsein über das bisher Erreichte motivierte ungemein. Den Col de la Forclaz kannte ich bereits: Hier waren wir am Donnerstag mit dem Auto vorbeigekommen, als wir von Martigny nach Chamonix fuhren. Damals, im bequemen Auto sitzend, hatte ich mir kaum vorstellen können, hier einmal zu Fuß vorbei zu kommen. Doch ein Stück weit war der Traum Wirklichkeit geworden. Der Lauf gehörte schon fast mir.
Völlig durchnässt, es war wieder am regnen, kam ich gegen 9:00h in Trient an. Die Verpflegungsstation war im örtlichen Tourismusbüro untergebracht und als ich die Tür öffnete, schlug mir ein Schwall warmer Luft entgegen. Die freiwilligen Helfer boten uns T-Shirts an, die wohl übrig geblieben waren. Dankend nahm ich an. Die 5min, die ich in einem trockenen T-Shirt bei ca. 30°C verbringen durfte, zählten zu den absoluten Highlights des Laufes! Ich rief meinen Vater an, der sich in La Fouly ein Zimmer genommen hatte und sagte ihm, wo ich gerade war. Dan hieß es wieder: „Rein ins klatschnasse und kalte Trikot, Mütze auf, ‚Merci beaucoup!’ und ab in den Nebel!“. Gott sei dank war es ja mittlerweile wieder hell; die Nacht war überstanden, die Müdigkeit hielt sich in Grenzen, die Beinen taten, wozu sie gedacht waren und ich war im Zeitlimit. Was wollte ich mehr!?
Der letzte 2.000er lag vor mir. Ich weiß nicht, wem ich es zu verdanken habe, aber obwohl es hier oben schon wieder ekelhaft kalt und nass war, ging es immer noch gut vorwärts. Irgendwie war ja jetzt doch ein Ende abzusehen, nachdem ja bereits 7.200 Höhenmeter „im Sack“ waren. Schon ging es wieder bergab nach Vallorcine. Kurz vor der Verpflegungsstation, die hier in einem Zelt untergebracht war, fiel mir ein Auto auf, das mir irgendwie besonders vorkam. Ich lief so vor mich hin, sah dieses Auto an, als ob ich noch nie eines gesehen hätte, dachte mir aber nichts dabei. Als sich jedoch die Tür öffnete und mein Vater ausstieg, wurde mir ein kleines bisschen bewusst, in welcher Verfassung ich mich befand. Ich hatte den Wagen einfach nicht erkannt. Mein Vater war ganz in der Nähe gewesen und gleich nach meinem Anruf aus Trient an die Strecke gefahren. Wir begrüßten uns und er ging mit zum Streckenposten. Ich genehmigte mir einen Kaffee, schließlich hatte ich immer noch nicht anständig gefrühstückt...
Angeblich lag nur noch ein Anstieg vor uns, mit 200hm eigentlich nicht mehr wirklich nennenswert. Dieser war auch schnell abgehakt und nun ging es laut Höhenprofil nur mehr im Arve-Tal hinunter nach Chamonix. Doch ich hatte so meine Bedenken, schließlich stellte sich der Spruch „Nur noch bergab!“ sowohl am Rennsteig als auch in Davos als Täuschung heraus. Und ich sollte Recht behalten. Um den Kurs nicht auf die Straße zu legen, wählten die Veranstalter einen Höhenweg an der Mont Blanc-Seite des Tales aus, und wie Höhenwege nun mal so sind, ging es in einem ständigen bergauf-bergab noch einmal ein ganzes Stück hoch. Doch der Weg war schön zu laufen und als Belohnung für uns Läufer kam wieder die Sonne heraus. Die Wärme tat ihr übriges, um mich noch mal in einen Sekundenschlaf fallen zu lassen. Ich spüre jetzt noch richtig, wie ich den sonnigen Forstweg hinunter schwankte! Aber das erstaunlich zügig: Die letzten 16km von Vallorcine brachte ich in guten zwei Stunden hinter mich, womit ich nicht wirklich gerechnet hatte.
Auf den letzten Kilometern begrüßte mich mein Vater noch zwei mal, dann ging alles recht schnell. Ich weiß nur noch, wie ich plötzlich an der berühmten „ENSA“, der Ski- und Bergführerschule von Chamonix vorbeikam. Entlang der Aveyron ging es ins Zentrum, ein bisschen durch die Fußgängerzone und schon stand der Start-/ Zielbogen vor mir, den ich vor 34h und 23min durchquert hatte. Mit der Platzierung bin ich mehr als zufrieden: Wie gesagt, nur 67 von 720 Läufern haben Chamonix erreicht, darunter waren acht Frauen; 5 Deutsche sind über diese Distanz gelaufen. Als jüngster Finisher konnte ich den 45. Platz erreichen, 14:17h nach dem Sieger, Daichhiri Sherpa aus Nepal.
Der Lauf war vorbei, nichts und niemand konnte mir mehr die Eindrücke und Erfahrungen nehmen. Etwas orientierungslos stolperte ich durch die Gegend, dann setzte ich mich an den Brunnen am Place de Balmat und horchte in mich hinein. Die Erinnerungen an 153km intensiver Wahrnehmung blitzten vor mir auf und ich versuchte zu begreifen, dass es vorbei war, dass kein Streckenabschnitt mehr auf der Karte stand. So richtig habe ich es erst jetzt, nach zwei Wochen realisiert.
Naja, es gibt ja Gott sei dank noch andere Läufe und spätestens im nächsten Jahr heißt es wieder: „Die größte Gefahr im Leben besteht darin, dass man zu vorsichtig wird!!“
An dieser Stelle möchte ich es nicht versäumen, den Veranstaltern für die hervorragende Organisation zu danken. Verpflegung und Unterstützung entlang der Strecke waren perfekt, auch das Organisatorische lief reibungslos. In Frankreich und Italien war die Markierung mehr als ausreichend und wer zu laut über die etwas dürftige „Beschilderung“ in der Schweiz schimpft, darf beim nächsten Mal beim Fähnchenstecken helfen! Mit der online-Zeiterfassung hatten die Zuschauer die Möglichkeit, jederzeit zu erfahren, wer sich wo befand. Schade, dass gegen Ende des Laufes die Leitung zusammenbrach und die Erstellung der Ergebnisliste ein paar Tage in Anspruch nahm. Aber ein bisschen Potential muss ja noch drin sein! Jedenfalls werden sich einige Läufe, vor allem der SwissAlpine in Davos „warm anziehen“ dürfen (mach' ich nächstes Jahr auch!!), denn was man am Mont Blanc für nur EUR60,- geboten bekam, war erstklassig. Wenn ich bedenke, dass der „Ultra-trail International du Tour du Mont Blanc“ seine Premiere hatte, möchte ich gar nicht wissen, wie die Sache nächstes Jahr laufen wird. Obwohl....
7. 6-Stunden-Lauf Ottobrunn, oder: Die Quittung!!
6:00:00h, 54,91km
6.4.2003 Ottobrunn
"Warum 'Quittung'?" werden sich jetzt einige von Euch sicher fragen, doch beim 7. 6h-Lauf von Ottobrunn bekam ich tatsächlich die Abrechnung für zwei Dinge: Zum einen für meinen schon fast unverschämten Sieg vom letzten Jahr, den ich gegen nur einem Kontrahenten und mit nur 98m Vorsprung "errungen" hatte und zum anderen für meine Art der Ernährung in den letzten Wochen. Meine diversen Entschuldigungen dafür sollten sich kurz nach dem Rennen auch als hinfällig erweisen; doch mehr dazu später.
Der Tag begann schon recht turbulent: Nachdem sich gegen 6:00h ein Stückchen blauer Himmel in Ulm zeigte, beendete ich meine innere Diskussion, ob ich mit dem Auto oder mit dem Motorrad nach Ottobrunn fahren sollte. Gepackt hatte ich sowieso schon die Taschen meiner Motorradkoffer und so zog ich meine Lederkluft an, schnappte mir meinen Helm und meine Handschuhe und fuhr los. Einen kurzen Zwischenstop schob ich bei der Bank ein, um etwas Bargeld zu holen. Als ich die Bank wieder verließ, glaubte ich meinen Augen nicht: Es schneite!!
Das war natürlich das triftigste Argument von allen und so düste ich wieder heim, zog mich um und machte mich per Auto schnellstens auf den Weg nach München. Gegen 8:30h war ich da und bis ich mich im Auto umgezogen hatte war die Einweisung der Läufer schon voll im Gange. Viele Gesichter kannte ich noch vom letzten Jahr, so waren auch diesmal wieder Achim Heukemes, der das Rennen krankheitsbedingt leider schon nach 31 Runden beenden sollte, Sepp Baumann, Dietmar Mücke, Sebastian Schöberl, Bernd Seitz und natürlich Viktor Adamczyk dabei.
Ich machte mir wenig Hoffnungen auf irgendeine tolle Platzierung, viel wichtiger war mir, dass ich den Stress der vergangenen Wochen - ein 14h-Arbeitstag war in der letzten Zeit bei mir die Norm gewesen - vergessen konnte und mal wieder den Kopf frei bekam. Dass ich jedoch diesmal nicht nur nicht mit knapp 100m Vorsprung gewinnen, sondern mit sage und schreibe 25,4km(!) Rückstand in der Hauptklasse zweiter und damit letzter werden sollte, machte mich doch etwas stutzig. Aber der 22jährige Rainer Koch von der LG Würzburg lief an diesem Sonntag seine 80,3km so entspannt und locker, als ginge es um's Aufwärmen vor einem Fußballspiel.
Wie gesagt hatte ich in der letzten Zeit die Rohkost sträflich vernachlässigt und schon nach wenigen Runden bekam ich deutlich mit dem Magen zu kämpfen. Ich hatte ganz vergessen, welche Beschwerden ich früher beim Laufen mit dem Bauch hatte; alles war durch die Umstellung auf Rohkost verschwunden. Jetzt war es wieder da. Grund und Motivation genug, wieder etwas aufzupassen und möglichst viel von der tot gekochten Materie vom Speiseplan zu verbannen!
Nachdem ich mich so über die ersten drei Stunden gekämpft hatte, ging es ab 12:00h deutlich besser. Zwar war kaum Druck in den Beinen, sodass ich nicht besonders schnell vorwärts kam, aber ich konnte zumindest wieder lächeln und Bernd bemerkte, dass ich wesentlich lockerer lief als noch zu Beginn der 6 Stunden.
Die zweite Hälfte verging auch relativ zügig, konditionell hatte ich wenig Probleme, bzw. war so langsam unterwegs, dass keine Gehpausen nötig waren. Um kurz nach halb drei begrüßten mich meine halbe Familie sowie eine sehr gute Freundin an der Strecke und so wollte ich noch einmal richtig Gas geben.
Irgendwie viel zu schnell war es 15:00h und mein dritter 6h-Lauf war vorbei. Aus welchem Grund auch immer zog ich jedoch keine Konsequenzen aus meinen Beschwerden und beschloss, etwas von dem vegetarischen Eintopf zu probieren, der vor dem Rennen angekündigt worden war. Neben mich setzte sich eine Läuferin, die mir schon während des Rennens aufgefallen war: Sie hatte von Anfang an sichtlich zu kämpfen, was ihr aber auch Spaß zu machen schien, denn sie kämpfte sich konsequent über die gesamte Zeit durch. Auf meine Frage, wie es ihr so gegangen sei, antwortete sie, dass sie ein hartes Wochenende hinter sich hatte: Gestern hatte sie ein 700km-Radrennen hinter sich gebracht, das als eines von drei Qualifikationsrennen für das legendäre Paris-Brest-Paris gewertet wird. Zur sowieso schon unglaublichen Distanz kam die Tatsache, dass die Fahrer über die gesamte Strecke mit Gegenwind zu kämpfen hatten. "Es war wie verhext; egal, in welche Richtung es ging, immer kam uns der Wind entgegen!", sagte sie mir.
Ich war natürlich fasziniert und fragte nach, was sie sportlich noch alles unternahm. Kurz und trocken erklärte sie mir, dass sie dieses Jahr für einen dreifachen Ironman trainierte - und das als alleinerziehende und berufstätige Mutter!! Auf meine Anmerkung, dass mein 14h-Tag damit als Entschuldigung für einen geringen Trainingsumfang wohl nicht mehr gelte, antwortete sie genauso trocken: "Nein. Wenn man will, dann geht alles."
Dieses Gespräch wird mir noch lange in Erinnerung bleiben und mich immer wieder ermahnen, keine Entschuldigungen irgendwo anders außer bei mir selbst zu suchen.
Saisonübersicht
Ultra Trail Tour du Mont Blanc (154km)
6h-Lauf Ottobrunn (55km)